1000LUX

Geschichten aus Luxemburg

Noch was zu tun

Es war während meines Studiums, dass ich zu spät aus der Uni kam und meine Straßenbahn verpasste. Verdammt, dachte ich mir und wartete auf die Nächste. Die kam, hielt an, ließ mich rein, fuhr los und stoppte auf halber Strecke, weil die Bahn davor ein Taxi geknutscht hat. Die Reisenden wurden auf der Strecke rausgelassen und durften bis zur nächsten S-Bahnstation zurücklaufen. Die Geschichte hab ich dann gerne dramatisch erzählt. Etwa so:

“Nur durch Glück bin ich nicht in die Straßenbahn eingestiegen, die mich beinahe in Lebensgefahr gebracht hätte.” Eine Freundin meinte nach einer solcher Erzählung, Gott hätte noch was mit mir vor und hätte mich deshalb nicht in die Straßenbahn einsteigen lassen, in der ich auch nicht ums Leben gekommen wäre. Ich hätte wohl noch was zu Ende zu bringen.

Heute morgen kam ich ins Büro und mein französischer Kollege Nico war noch nicht da. Er kam verspätet. Er kam zu Spät zur Arbeit, weil er heute morgen einen Autounfall hatte. Auf der Autobahn wollte ein Wagen vor ihm einen Laster überholen. Der Wagen scherrte nach links, wo Nico gerade im toten Winkel war und von ihm ein unfreiwilliges Pitmanöver verpasst bekam, was beide Wagen bei 110km/h abdrehen ließ. Zu seinem Glück ist nichts passiert. Der Wagen hat nur Sachschaden, er hat nicht einmal eine Schramme und sein frisch repariertes MacBook kam auch nicht zu erneutem Schaden. Als er im Büro sehr leidenschaftlich seine Geschichte erzählte sagte ich, Gott hätte noch was mit ihm vor und will, dass er seine Arbeit noch fertig macht. Den ganzen Tag über war ihm nicht anzusehen, dass er heute morgen noch in einen Unglückswagen saß. Einzig die große Zahl Anrufe heute, ließen vermuten, dass er entweder in einem Unfall war oder Geburtstag hätte. Zum Feierabend ließ er seine Arbeit unfertig liegen um auch morgen wieder kommen zu dürfen.

Nico hatte noch einen Zweck zu erfüllen. Wenn sie könnte, dann würde sich eine gewisse italienische Dame sicher zweimal überlegen ihre Aufgabenliste wohl einen Tick zu gründlich abgearbeitet zu haben. Erst ihr Urlaub in Brasilien, dessen Rückflug AF-447 sie noch verpasst hat, dann einige Tage später ein Autounfall. In dem Moment in Rio de Janeiro hatte sie wohl noch einen offenen Punkt auf der Liste. Den hat sie zurück in Europa etwas zu schnell abgehakt und stand deswegen wieder sobald ihrem Schöpfer gegenüber.

Ich habe seit einiger Zeit gleich zwei Listen. Eine mit den Sachen, die ich mal machen will und eine mit den Dingen, die ich mal angefangen habe, aber noch zu Ende bringen muss. Beide Listen werden nicht kürzer, was mir noch einige Jahre geben sollte. Und wenn Nico morgen doch nicht kommt, hat er mir sein MacBook versprochen.

16. Juni 2009